Die neue NOAA-Richtlinie zur Sauerstofftoxizität des ZNS für das Tauchen mit Rebreathern
- Michael Mutter

- 16. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Die geltende NOAA-Richtlinie zur Begrenzung der Sauerstofftoxizität beim Tauchen stammen aus den 1970er- und 1980er-Jahren – aus einer Zeit, als Rebreather-Technologie, digitale Sensorik und heutige Tauchprofile noch in weiter Ferne lagen. Dennoch bildeten diese frühen, bewusst konservativen Werte über Jahrzehnte die Grundlage sämtlicher Sicherheitsrichtlinien.
Mit der aktuellen NOAA-Revision werden diese Grenzwerte nun erstmals grundlegend überarbeitet. Die neuen Empfehlungen zur ZNS-Sauerstofftoxizität berücksichtigen aktuelle Praxiserfahrungen und moderne Tauchverfahren und bringen damit wissenschaftliche Theorie und operative Realität wieder in Einklang.
Diese Anpassung war überfällig – und sie verändert, wie Sauerstoffexposition im Rebreather-Tauchen künftig verstanden, geplant und gelehrt wird.Im Folgenden werden die Hintergründe, wissenschaftlichen Grundlagen und praktischen Konsequenzen dieser Revision näher beleuchtet.

Die Ursprünge der Sauerstofftoxizität
Die modernen Sicherheitsstandards für das Tauchen beruhen auf Forschungen der US Navy und der NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) aus den 1970er- und 1980er-Jahren. Diese Studien untersuchten, wie lange Menschen unter erhöhtem Sauerstoffpartialdruck sicher atmen können, bevor das Risiko einer Sauerstoffvergiftung des Zentralnervensystems (ZNS) entsteht – einer akuten, potenziell tödlichen Komplikation, die zu Ertrinken durch epileptische Anfälle führen kann.
Die Wurzeln dieser Forschung reichen jedoch weiter ins 20. Jahrhundert zurück. Der Physiologe John Scott Haldane und seine „chamber divers“ führten vor und während des 2. Weltkrieges in London Pionierstudien zur physiologischen Wirkung von Druck und Sauerstoff durch. Diese Arbeiten, die jüngst in Rachel Lances Buch (2024) neu beleuchtet wurden, bildeten die wissenschaftliche Grundlage für die Grenzwerte der Sauerstofftoxizität.
Auf dieser Basis entwickelten die US Navy und die NOAA im Laufe der Jahrzehnte quantitative Expositionstabellen, die 1991 in den NOAA Oxygen Exposure Tables mündeten. Diese legten Zeitlimits für inspiratorische Sauerstoffpartialdrücke (PO₂) zwischen 0,5 und 1,6 bar fest. Für den heute beim Rebreather-Tauchen gängigen Sollwert von 1,3 bar galt eine Begrenzung auf 180 Minuten pro Tauchgang und 210 Minuten pro Tag.
Diese Werte stammten aus Druckkammerversuchen mit ruhenden Probanden und waren bewusst konservativ gewählt. Sie verbanden Aspekte der ZNS- und pulmonalen Toxizität in einem gemeinsamen Rahmen. Während sie damals als vorsichtig und angemessen galten, hat die moderne Tauchpraxis diese Annahmen längst überholt.
Der Aufstieg der Rebreather und die Grenzen veralteter Daten
In den letzten drei Jahrzehnten haben Closed-Circuit-Rebreather (CCR) das technische und wissenschaftliche Tauchen grundlegend verändert. Durch die Aufrechterhaltung eines konstanten PO₂ (typischerweise 1,3 ATA) ermöglichen sie deutlich längere Grundzeiten und eine optimierte Dekompression.
Praktische Erfahrungen zeigen, dass Taucher die Expositionsgrenzen von 1991 regelmäßig – teils über Stunden hinweg – überschreiten, ohne dokumentierte Fälle von ZNS-Sauerstofftoxizität. Tausende Tauchstunden, darunter Tiefseeexpeditionen und ausgedehnte Dekompressionstauchgänge, belegen, dass die ursprünglichen Grenzwerte für moderne CCR-Einsätze zu restriktiv waren.
Diese empirischen Erkenntnisse führten schließlich dazu, dass die NOAA die Datenbasis überprüfte und eine Überarbeitung ihrer langjährigen Richtlinien einleitete.
Eine zeitgemäße Neuausrichtung der NOAA Richtlinie
Nach einem von der NOAA initiierten Fachworkshop veröffentlichte eine multidisziplinäre Expertengruppe unter der Leitung von Hoyt et al. (2025) letzten Monat eine aktualisierte Richtlinie zur ZNS-Sauerstoffexposition.
Auf Grundlage historischer Untersuchungen und aktueller Felddaten schlagen die Autoren für den gängigen PO₂-Sollwert von 1,3 bar folgende neue Grenzwerte vor:
Bis zu 240 Minuten während aktiver oder arbeitsintensiver Phasen, sowie
zusätzliche 240 Minuten während Ruhe- oder Dekompressionsphasen (definiert als Atemminutenvolumen < 22,5 l/min).
Damit steigt die zulässige Gesamtexposition auf 480 Minuten (8 Stunden) pro 24 Stunden, ohne dass ein erhöhtes Risiko für eine ZNS-Toxizität beobachtet wurde. Das Limit liegt damit weit über den bislang gültigen Grenzwerten für den gleichen Sauerstoffpartialdruck (1.3 bar).
Diese Modernisierung wird von Experten aus dem militärischen, kommerziellen und technischen Tauchsport einhellig unterstützt und bestätigt, was die operative Erfahrung seit Jahren nahelegt: Eine ZNS-Sauerstofftoxizität bei 1,3 ATA ist äußerst unwahrscheinlich, sofern der PO₂-Wert stabil bleibt, die CO₂-Retention gering ist und die körperliche Belastung moderat gehalten wird.
ZNS- und pulmonale Sauerstofftoxizität: Ein differenzierter Ansatz
Die ursprünglichen NOAA-Tabellen kombinierten ZNS- und pulmonale Toxizität in einem einheitlichen Satz von Grenzwerten. Die Richtlinie von 2025 trennt diese nun konsequent: Die ZNS-Grenzwerte werden neu definiert, während die pulmonalen Richtlinien im Wesentlichen unverändert bleiben.
Da die neuen ZNS-Expositionszeiten unterhalb der bekannten Schwellenwerte für pulmonale Toxizität liegen, bleibt das Risiko einer Lungenreizung minimal. Dennoch sollten Taucher, die sich länger oder wiederholt hohen Sauerstoffpartialdrucken aussetzen, weiterhin die pulmonale Toxizität überwachen, um die kumulative Belastung im Blick zu behalten.
Zusammenfassend:
Die neuen Richtwerte betreffen ausschließlich die ZNS-Toxizität, nicht die pulmonalen Grenzwerte.
Sie gelten nur für einen Sauerstoffpartialdruck von 1.3 bar.
Das Risiko einer pulmonalen Toxizität bleibt gering, reversibel und durch Monitoring kontrollierbar.
Strategien zur Minimierung der Sauerstofftoxizität des ZNS
Die Prävention einer Sauerstoffvergiftung des Zentralnervensystems beruht auf präziser Kontrolle des PO₂ und der Minimierung physiologischer Belastungsfaktoren. Die aktualisierten Leitlinien betonen insbesondere:
Sicherstellung technischer Zuverlässigkeit:
Fehlfunktionen von Rebreathern können PO₂-Spitzen verursachen. Regelmäßige Wartung, Sensorüberwachung und Systemtests sind unverzichtbar.
Vermeiden einer CO₂-Retention:
Erhöhte CO₂-Werte potenzieren die ZNS-Toxizität durch gesteigerten zerebralen Blutfluss. Frischer Kalk, angepasste Arbeitslast und gleichmäßige Atmung sind essenziell.
Begrenzung von Arbeitsbelastung und thermischem Stress:
Übermäßige Anstrengung oder Kälteexposition erhöhen die metabolische Belastung. Hohe PO₂-Sollwerte sollten – wenn möglich – auf Ruhephasen beschränkt werden.
Kommentar
Die Überarbeitung – genauer gesagt die Einführung spezifischer Richtlinien für das Rebreather-Tauchen mit einem Standard-O₂-Setpoint von 1,3 bar – markiert einen Meilenstein, ist sie doch die erste grundlegende Anpassung der ZNS-Sauerstoffgrenzwerte seit über 30 Jahren. Die neuen Grenzwerte ermöglichen nun deutlich längere Tauchzeiten, die in der Praxis jedoch für die Mehrheit der Rebreather-Taucher weit außerhalb ihres üblichen Einsatzspektrums liegen dürften.
Es sei hier einmal mehr betont: Die sogenannte „ZNS-Uhr“ der Sauerstofftoxizität, auf der die bisherigen Grenzwerte beruhen, steht auf einem ausgesprochen schwachen wissenschaftlichen Fundament. Tatsächlich basiert das Konzept auf wenigen Daten und einer stark vereinfachten Modellvorstellung der physiologischen Realität. In der Form, in der sie von der NOAA über Jahrzehnte tradiert wurde, hat diese „Uhr“ wohl nie wirklich existiert. Eine kritische Analyse dazu findet sich hier.
Ein interessantes Detail am Rande: Als Ruhephase (z. B. während der Dekompression) wird in den neuen Empfehlungen ein Atemminutenvolumen von weniger als 22,5 l/min definiert. Viele technische Hobby-Taucher werden diesen Wert vermutlich selbst in der „Arbeitsphase“ ihres Tauchgangs nicht überschreiten. Entsprechend dürfte das tatsächliche Risiko einer ZNS-Toxizität in der typischen Rebreather-Praxis noch etwas geringer ausfallen, als es die Richtlinien vermuten lassen – deren Fokus stärker auf belastungsintensiven Einsätzen, etwa im militärischen Umfeld, liegt.
Wesentlich ist jedoch der Hinweis, dass diese Revision ausschließlich für den genannten Sauerstoffpartialdruck von 1,3 bar gilt. Eine Extrapolation nach unten – und insbesondere nach oben – ist nicht zulässig. Höhere PO₂-Werte bleiben hinsichtlich ihrer Toxizitätsdynamik weiterhin unzureichend verstanden. Entsprechend ist es zu unterlassen, aus den neuen Grenzwerten längere Expositionszeiten für höhere Sauerstoffpartialdrucke (z. B. bis 1,6 bar) abzuleiten.
Die NOAA wird diese Richtlinien in das nächste offizielle Tauchhandbuch aufnehmen. Es müssen wohl einige Kursunterlagen für das Rebreathertauchen angepasst werden.





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