top of page

29 Minuten den Atem anhalten - wie ist das möglich?

  • Autorenbild: Michael Mutter
    Michael Mutter
  • 4. Sept.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 5. Sept.

Der kroatische Freediver Vitomir Maričić hat vor Kurzem einen neuen Weltrekord im Apnoetauchen aufgestellt: 29 Minuten und 3 Sekunden hielt er die Luft an – eine Leistung, die für Außenstehende fast übermenschlich wirkt. Physiologisch lässt sie sich erklären, doch die mentale Disziplin, die dahintersteht, bleibt außergewöhnlich.


Nicht einmal 1 Minute... Lumaha’i River, Kauai
Nicht einmal 1 Minute... Lumaha’i River, Kauai

Der Weltrekord

Am 14. Juni 2025 tauchte Maričić im Hotel Bristol in Opatija (Kroatien) in einem 3 m tiefen Pool. Vor fünf offiziellen Kampfrichtern und rund 100 Zuschauern lag er mit verschränkten Händen hinter dem Kopf ruhig auf dem Rücken am Beckenboden.


Wie nach den Guinness-Richtlinien erlaubt, bereitete er sich mit Atmung von reinem Sauerstoff vor (Präoxygenation). Nach dem Auftauchen berichtete er: „Ab der 20. Minute wurde es mental leichter, obwohl es körperlich immer schlimmer wurde – besonders wegen der starken Zwerchfellkontraktionen. Aufgeben kam aber nicht infrage.“ Den Erfolg schrieb er der Unterstützung durch Team, Familie und Freunde zu.


Zum Vergleich: Der offizielle AIDA-Weltrekord im statischen Apnoetauchen mit normaler Luft liegt seit 2013 bei 11:35 min (Stéphane Mifsud). Maričićs persönliche AIDA-Bestzeit beträgt 10:08 min.


Präoxygenation - die Speicher aufladen

Bei normalem Einatmen stehen in Lunge, Blut und Gewebe lediglich rund 300 ml Sauerstoff zur Verfügung – genug für kaum mehr als eine Minute Luftanhalten.


Nach einer Präoxygenation mit 100 % O₂ ist die Lunge dagegen mit Sauerstoff „aufgeladen“.  Zusammen mit Blut- und Gewebespeichern stehen so mehrere Liter O₂ zur Verfügung.  


Diese Methode wird auch in der Medizin genutzt: etwa routinemäßig in der Anästhesie, um nach dem durch Narkose ausgelösten Atemstillstand genügend Zeit für die Intubation bis zur Beatmung zu gewinnen. Auch in der Radio-Onkologie (z. B. bei Brustkrebs) kommt sie zum Einsatz, damit Patientinnen während der Bestrahlung länger den Atem anhalten können. Selbst Ungeübte erreichen mit reiner O₂-Atmung ohne Mühe mehrere Minuten  - wohlgemerkt ohne tiefes Einatmen, sondern ohne Anstrengung in Atemmittellage.


Die Alveolargleichung

Die Grundlage für die physiologische Erklärung bildet die Alveolargleichung, mit der sich der alveoläre Sauerstoffpartialdruck PAO₂ berechnen lässt. Da dieser nicht direkt messbar ist, wird er aus geatmeter O₂-Fraktion (FIO₂ z.B. Luft 0.21), Umgebungsdruck, Wasserdampfdruck, dem arteriellen CO₂-Partialdruck (PaCO₂) und dem respiratorischen Quotienten (RQ = Verhältnis von CO₂-Abgabe und O₂-Aufnahme) errechnet. Als Mediziner verwende ich als Masseinheit mm Hg anstelle von bar, wobei der Umgebungsdruck von 1 bar 760 mm Hg entspricht. Von diesem muss der Dampfdruck (47 mm Hg) abgezogen werden, weil die Luft in den Alveolen zu 100% dampfgesättigt ist. Bei Normalatmung (FiO₂ = 0.21, PaCO₂ = 40 mmHg, RQ = 0,8) ergibt sich:



Dieser Wert bedeutet: Bei einem Umgebungsdruck von 1 bar beträgt die alveoläre Sauerstofffraktion etwa 100/760 = 0,13. Davon steht jedoch nicht alles zur Verfügung, da der O₂-Partialdruck nicht unter eine kritische Schwelle von etwa 30 mmHg sinken darf – sonst droht Bewusstlosigkeit. Die tatsächlich nutzbare Fraktion beträgt also (100−30)/760 ≈ 0,09.


Wenn eine Durchschnittsperson vor dem Luftanhalten voll einatmet, enthält eine Lunge mit 6 l Volumen 540 ml verfügbaren Sauerstoff (6 l x 0.09). Bei einem Sauerstoffverbrauch von 250 ml/min (entspricht einem theoretischen Ruhemetabolismus einer 70-kg-Person) wäre diese Reserve nach  2 Minuten und 10 Sekunden aufgebraucht.


Hier liegt bereits der erste Schlüssel zum Apnoetauchen: Nur wer den Sauerstoffverbrauch extrem senkt, kann seine Reserven wirklich ausdehnen. Maximale körperliche und mentale Entspannung ist daher essenziell – für Maričić war das die Grundlage seines Rekords.


Wie verändert sich die Rechnung mit reiner O₂-Atmung über 10 Minuten? (Bei Guinness-Weltrekordversuchen sind bis zu 30 Minuten erlaubt.) In diesem Fall ist die Lunge fast vollständig mit Sauerstoff gefüllt. Der alveoläre O₂-Partialdruck steigt auf:


ree

Rechnet man mit einem Lungenvolumen von 6 l und einer kritischen Blackout-Schwelle von 30 mmHg, ergibt sich eine Sauerstoffmenge von:


ree

Diese reicht für theoretisch 20 Minuten. Tatsächlich nutzen dies Performance-Künstler und Stuntmen, um das Publikum zu beeindrucken. Doch bis zu Maričićs 29 Minuten ist es noch ein Stück.


Lung packing

Hier kommt die Spezialtechnik der Elitetaucher ins Spiel: das Lung Packing. Wer Freitaucher beim Abtauchen beobachtet, erkennt die bizarren Bewegungen der Glossopharyngeal-Atmung. Mit Kontraktionen der Schlundmuskulatur presst sie zusätzliche Luft in die Lunge und steigert so das Lungenvolumen auf 8 bis 9 Liter.

Kombiniert mit Präoxygenation steigt die die O₂-Reserve drastisch. Rechnet man mit einem Volumen von 9 l und einer kritischen Blackout-Schwelle von 30 mmHg, ergibt sich:


ree

Bei einem Verbrauch von 250 ml/min reicht diese Reserve theoretisch für 30 Minuten – exakt in der Größenordnung von Maričićs Rekord.


Damit ist der Weltrekord teilweise erklärbar. Doch die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen erst mit dem Gegenspieler: dem CO₂.


CO₂ – der eigentliche Gegenspieler

Fast jedes Molekül Sauerstoff, das im Stoffwechsel verbraucht wird, wird in Kohlendioxid (CO₂) umgewandelt. Da dieses unter Apnoe nicht abgeatmet wird, steigt der CO₂-Partialdruck im Blut zwangsläufig um etwa 3–6 mm Hg pro Minute. Je höher der O₂-Verbrauch, desto stärker fällt dieser Anstieg aus – ein weiterer Grund, warum völlige Entspannung für Freediver so wichtig ist.


Das Problem: CO₂ ist der stärkste Atemstimulus des Körpers. Während ein niedriger O₂-Gehalt erst relativ spät eine Bewusstlosigkeit auslöst, reagiert das Atemzentrum schon früh auf steigende CO₂-Konzentrationen, um das empfindliche Säure-Basen-Gleichgewicht im Blut zu schützen. Über Kohlensäurebildung führt CO₂ unmittelbar zu einer Azidose (Übersäuerung), die nur durch vermehrte Abatmung korrigiert werden kann. Deshalb hat der Organismus dem CO₂ einen so dominanten Atemreiz verliehen.


  • Untrainierte Personen spüren ab einem PaCO₂ von etwa 50–55 mmHg einen massiven Atemdrang.

  • Trainierte Freediver können Werte von 60–65 mmHg und darüber hinaus tolerieren.


Daraus wird klar: Nicht der Sauerstoffmangel beendet die Apnoe, sondern der Atemreiz durch CO₂. Lange bevor die O₂-Reserve erschöpft ist, zwingt das CO₂ normalerweise zur Atmung. Und schützt so den Körper auch vor Sauerstoffmangel.


Elitetaucher wie Maričić sind in der Lage, diesen Atemreiz so weit hinauszuzögern, dass CO₂-Limit und O₂-Limit fast zusammenfallen – und damit Apnoezeiten im Bereich von 29 Minuten überhaupt möglich werden.


Wie gelingt eine so hohe CO₂-Toleranz?

  1. Erhöhte Pufferkapazität: Durch Training verbessert sich die Fähigkeit des Blutes, Säurelasten abzufangen. CO₂ wird chemisch besser neutralisiert, sodass der PaCO₂ langsamer steigt.

  2. Abgeschwächte Chemorezeptor-Sensitivität: Langjähriges Apnoetraining führt zu einer neurophysiologischen Desensibilisierung der zentralen und peripheren Rezeptoren – der Atemreiz setzt später ein.

  3. Genetische Veranlagung: Manche Menschen („CO₂-retainer“) zeigen von Natur aus eine schwächere Atemantwort auf CO₂. Es wird vermutet, dass sie unter Elitetauchern überdurchschnittlich häufig vorkommen. Dies ist aber kaum zu beweisen, da nicht zwischen angeborenem und atrainierten CO₂-retaining unterschieden werden kann.

  4. Mentale Disziplin: Der Atemreiz ist nicht nur eine physiologische, sondern auch eine psychologische Herausforderung. Elite-Freediver trainieren gezielt, die immer heftigeren Zwerchfellkontraktionen zu ertragen und nicht nachzugeben.


Willenskraft als letzte Hürde

In den letzten Minuten litt auch Maričić unter einem drastisch zunehmenden Atemreiz. Er selbst berichtete von massiven, unwillkürlichen Zwerchfellkontraktionen in den letzten Minuten seines Rekords. Nur durch konsequente Unterdrückung dieses Drangs konnte er die Apnoe fortsetzen. Das Wissen, dass er dank Präoxygenation nicht unmittelbar in hypoxischer Gefahr schwebte, half ihm sicher – doch die mentale Stärke, diesem überwältigenden Impuls zu widerstehen, bleibt außergewöhnlich.


ree

Kommentare


bottom of page