Die HMS Thetis sank 1939 auf ihrer ersten Testfahrt. Der Untergang raubte nicht nur das Leben von 99 U-Bootfahrern, sondern legte auch schonungslos die Defizite der britischen U-Boot-Technologie offen. Die Frage, weshalb sich nur 4 Mann aus dem im flachen Wasser liegenden Boot retten konnten, war völlig unklar. Wie eine verschworene Gruppe von GenetikerInnen (!) im Auftrag der britischen Marine nicht nur die Todesumstände der Besatzung klärte, sondern in den darauf folgenden Kriegsjahren auch die Grundlage der modernen Tauchphysiologie erarbeitete und den Ausgang des 2. Weltkrieges beeinflusste, erzählt Rachel Lance, eine amerikanische Biomedzinische Ingenieurin mit Spezialgebiet Unterwasserdetonationen, auf brillante Weise im Buch „Chamber Divers“.
GenetikerInnen begründen die moderne Tauchphysiologie
Warum aber wandte sich die britische Marine in ihrer Verzweiflung ausgerechnet an einen Genetiker? Bei diesem handelte es sich um John Burdon Sanderson Haldane, den Sohn von John Scott Haldane, dem Begründer der modernen Dekompressionsphysiologie. Als Jugendlicher hatte er aktiv an den Forschungen seines Vaters teilgenommen und sich ein grosses Wissen über die Tauchphysiologie angeeignet. Dieses zapfte die britische Admiralität an.
Haldane scharte eine ebenso verschworene wie skurrile Gruppe um sich; unter ihnen vor dem Naziterror geflüchtete, jüdische Wissenschafter vom Kontinent, aber auch ehemalige Gleichgesinnte, die er im Spanischen Bürgerkrieg kennengelernt hatte. So nahm als Versuchsperson Hans Kahle, ein Erzkommunist teil, der dem britischen Geheimdienst als Kriegsverbrecher auf Seiten der Anti-Franco-Koalition galt und von Ernest Hemingway als fiktionaler „General Hans“ in „Wem die Stunde schlägt“ verewigt worden war. Haldane schaffte es, ihn als Versuchsperson in sein Projekt einzubinden und ersparte ihm, dem deutschen Staatsbürger, der sich vor den Nazis in Grossbritannien versteckte, eine Verhaftung durch die Strafverfolgungsbehörden. Die Forschung von Haldane war so wichtig, dass man ihn trotz seiner sozialistischen Gesinnung gewähren liess. Der britische Inlandgeheimdienst überwachte Haldane allerdings eng.
Die Gruppe konnte in den Druckkammern der Firma Siebe Gorman in London Mitte bald klären, dass die Besatzung der Thetis an einer CO2-Vergiftung gestorben war. (Die Firma geht zurück auf August Siebe, der 1819 den ersten Helm für ein „standard rig“ der britischen Marinetaucher entworfen hatte, mit dem man auch knien konnte, ohne den Helm zu fluten.) In der Folge erarbeitete sie Richtlinien für die Notausstiegsprozeduren aus U-Booten unter Sauerstoffatmung und für CO2-Filter resp. die dafür benötigten Kalkmengen für U-Boote und legte so die Basis u.a. für den Betrieb von Kleinst-U-Booten für Kommandoaktionen. In der Zwischenzeit war nämlich der 2. Weltkrieg ausgebrochen und spätestens nach der „Dieppe raid“ im August 1942, einer Kommandoaktion an den Stränden der Normandie, welche wegen völlig ungenügender Kenntnisse der Umgebung im Debakel mit dem Verlust von ca. 70% der eingesetzten Kräfte, v.a. kanadischer Soldaten, endete, war den Alliierten klar, dass eine Invasion nur nach eingehender Aufklärung der Landungsstrände durchgeführt werden konnte. Und dafür waren Taucher nötig.
Druckkammerexperimente im Bombenhagel
Die Aufgabenstellung für die Gruppe wurde von der britischen Admiralität rasch ausgeweitet. Neben dem Studium der Stickstoffnarkose (Tiefenrausch) beim Tauchen mit Pressluft lag das Gewicht vor allem auf der Erforschung der Sauerstoffatmung unter Wasser. In mehreren hundert Druckkammerexperimenten an sich selbst gingen die „chamber divers“ an die Grenzen des Tolerierbaren und darüber hinaus. Sie setzten sich Stickstoffnarkosen, wiederholten Krampfanfällen als Folge der Sauerstofftoxizität, Barotraumen und in einem Fall einem Pneumothorax mit arterieller Gasembolie aus. Auch während den Bombardierungen von London durch die Luftwaffe setzten sie ihre Experimente mit Unterbrüchen fort.
Erste SCUBA-Taucher...
So legten sie die ersten Richtlinien zur Verhinderung der Sauerstofftoxizität beim Atmen von reinem Sauerstoff während des Tauchens fest, ein Thema, welches bei der Admiralität höchste Priorität genoss, da nur so der Einsatz von Kampftauchern für das Rekognoszieren und Räumen der Landungsstrände möglich wurde.
Tauchen war bis zu diesem Zeitpunkt gleichzusetzen mit Metallhelmen und Nabelschnüren, ein Modus, der für Kommandoaktionen völlig untauglich war. SCUBA-Tauchen wurde in den Kriegsjahren gerade erfunden und für diese Tauchgänge wurden Systeme verwendet, die eigentlich für die Rettung von U-Boot-Besatzungen konzipiert worden waren und reinen Sauerstoff als Atemgas verwendeten.
... und die Erfindung von Nitrox
Bald verloren die Briten mit diesen Geräten bei hochgeheimen Tests Taucher unter ungeklärten Umständen. Die „chamber divers“ konnten zeigen, dass dafür u.a. Krampfanfälle beim Atmen von Sauerstoff unter erhöhtem Druck verantwortlich waren, und sie erfanden im Vorbeigehen Nitrox, indem sie den Sauerstoffanteil auf 70% senkten und damit für die relativ flachen Tauchgänge der Kommandotaucher ein sicheres Atemgas zur Verfügung stellen konnten.
Das Plagiat von Donald
Es waren also die „chamber divers“ und nicht der Marinearzt Kenneth „Ken“ Donald, die die Grenzbedingungen für das sichere Tauchen mit Sauerstoff definierten. Dieser wurde der Gruppe 1942 vor die Nase gesetzt, um die Forschungen zu „leiten“. Die sozialistischen Agitationen von Haldane und seine vermeintliche politische Unzuverlässigkeit dürften dafür eine Rolle gespielt haben. Donald beanspruchte in der Folge die Erkenntnisse für sich, obwohl seine fachliche Qualifikation dafür bei Weitem nicht ausreichte. Dies gilt insbesondere für die statistischen Analysen, ohne die keine Richtlinien hätten erarbeitet werden können. Aus Gründen der Geheimhaltung blieb es Haldane und seinen MitarbeiterInnen Zeit Lebens verwehrt, ihre Resultate wissenschaftlich zu publizieren. Nicht so Donald, der nach seiner Marinekarriere die Erkenntnisse 1992 im Buch „Oxygen and the diver“ veröffentlichte, welches als Standardwerk dieser Thematik gilt. Die Autorin benennt schonungslos, was dieses Buch ist: ein hundertprozentiges, zum Teil wörtliches Plagiat der Arbeiten der „chamber divers“. Ich habe mich oft gefragt, warum es von Donald keine weiteren Publikationen gibt. Nun weiss ich, weshalb.
Die „chamber divers“ sorgten dafür, dass die Allierten die Landungsstrände mit Tauchern aufklären und am D-Day Unterwasserhindernisse räumen und entminen konnten. Ohne sie wäre eine erfolgreiche Invasion wohl nicht möglich gewesen. Tatsächlich waren „frogmen“, wie die ersten SCUBA-Taucher damals genannt wurden, die ersten, welche in der Normandie die Strände betraten: vor der Invasion zu Rekognoszierungszwecken und während der Invasion als Unterwasser-Räumungs- und Entminungskommandos.
Die „Leistungen (der „chamber divers“) waren bis 2001 unter Geheimhaltung begraben. Die Welt wusste nie, was (sie) erreicht hatten, was sie zum D-Day, zur Wissenschaft und zur Welt als Ganzes beigetragen hatten. Bis jetzt.“ - Rachel Lance
Lance erzählt diese Geschichte fesselnd. Trotzdem bleibt sie fachlich präzis. Noch nie habe ich eine süffigere Erklärung der Dekompressionskrankheit gelesen. Spannend sind ihre Berichte über Kommandoaktionen von Tauchern und Klein-U-Boot-Besatzungen, mit denen sie einen direkten Bogen von der Wissenschaft zu ihrer unmittelbaren Umsetzung im Krieg spannt. Auch die menschlichen Dramen, welche sich in der Forschungsgruppe abspielten, lässt sie nicht unbeleuchtet. Diese zeigen, was die „chamber divers“ in erster Linie waren: Menschen, die unter prekären Umständen an die Grenze des Möglichen gingen. Dafür waren sie schlecht oder gar nicht bezahlt und nur teilweise versichert.
Nur vereinzelt hätte ich mir mehr Tiefgang gewünscht, zum Beispiel bei der Frage, weshalb die Briten in punkto Physiologiekenntnissen des U-Boot-Fahrens den Deutschen so weit hinterherhinkten.
Vergessene WissenschafterInnen
Grossen Wert legt Lance auf ein weit verbreitetes Problem der Wissenschaft: Dem Verschweigen von wesentlichen Beiträgen Einzelner. An der schillernden Person von Helen Spurway, ehemaligen Studentin, späteren Geliebten und zweiten Ehefrau von Haldane, die als Versuchsperson und brillante Wissenschafterin die statistischen Auswertungen der Sauerstoff-Experimente verantwortete, und deren Beitrag heutzutage separate Publikationen Wert wäre, die bis heute aber nur als Genetikerin bekannt ist, zeigt sie dieses Problem exemplarisch auf.
Das Buch ist allen zu empfehlen, die sich für das Tauchen, Militär- oder Wissenschaftsgeschichte interessieren oder einfach ein spannendes, nicht-fiktionales Buch aus der Zeit des 2. Weltkrieges lesen möchten. Es ist bisher nur in englischer Sprache erhältlich.
P.S.
Nach dem Krieg liess sich ein Franzose von Haldane beraten. Ihm wurde erlaubt, die Erkenntnisse der "chamber divers" für seine Tauchexpeditionen zu verwenden, sofern eine militärische Nutzung ausgeschlossen war. Dieser Mann war Jacques Cousteau.
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