Im letzten Blogbeitrag habe ich das Sauerstofffenster detailliert erklärt. Wir haben festgestellt, dass die höhere Löslichkeit von Kohlendioxid (CO2) im Vergleich zu Sauerstoff (O2) nach der Verstoffwechselung von Sauerstoff zu einem niedrigeren Gesamtdruck im Gewebe führt im Vergleich zum Blut oder den Lungenbläschen. Dieser Druckunterschied nimmt zu, je höher der Sauerstoff-Partialdruck im Atemgas ist. Dies ist die Grundlage der sogenannten „inhärenten Untersättigung“, bei der der Gewebedruck immer etwas niedriger ist als der Umgebungsdruck – eine Voraussetzung für eine theoretisch blasenfreie Dekompression, die beim Tauchen jedoch kaum realisierbar ist. Wir haben auch herausgefunden, dass sauerstoffreiche Atemgasgemische das Sauerstofffenster zwar vergrößern, aber die Dekompressionszeit nicht verkürzen. Trotzdem spielt das Sauerstofffenster eine wichtige Rolle beim Tauchen – worin genau, das erklärt der aktuelle Blogbeitrag.

Beim Tauchen "lebt" man vom gelösten Sauerstoff
Zur Veranschaulichung des Sauerstofffensters sei noch einmal die Grafik aus dem letzten Beitrag betrachtet (Abbildung 1): Sie zeigt das Sauerstofffenster bei der Verstoffwechselung von jeweils 5 Volumen-% Sauerstoff, einmal bei Normaldruck (inspiratorischer PO2/PiO2 0,2 bar) und einmal bei 100%-O2-Atmung auf 5 m Tiefe (PiO2 1,5 bar). Im ersten, steil ansteigenden Teil der Kurve fällt der Sauerstoffpartialdruck weniger stark ab, da hier der Sauerstoffbedarf durch ans Hämoglobin gebundenen Sauerstoff gedeckt wird. Im horizontalen Teil wird der Sauerstoffbedarf aber vollständig vom gelösten O2 gedeckt. Deshalb fällt der O2-Partialdruck entsprechend stark ab, das Sauerstofffenster öffnet sich und ist bei 100%-O2-Atmung während des Dekostopps auf 5 m viel grösser als bei Luftatmung an Land. Es erreicht sein Maximum bei ca. 2.2 - 2.3 bar O2-Partialdruck und bleibt dann konstant.

Abbildung 1
Ein bisschen Blasenphysiologie
Wie wirkt sich das Sauerstoffenster nun konkret beim Tauchen aus? Es hilft in erster Linie, die Blasenbildung zu vermeiden resp. bestehende Blasen zu eliminieren. Zu diesem Zweck stellen wir uns eine Gasblase vor, die während dem Tauchen im Gewebe entstanden ist und betrachten sie nach dem Tauchgang bei 1 bar Umgebungsdruck.
Der Gesamtdruck einer Blase berechnet sich aus den Partialdrucken der Gase gemäss Dalton, d.h.
pBlase = pN2 + pO2 + pCO2 + pWasserdampf.
Der Stickstoffpartialdruck entspricht deshalb
pN2 = pBlase – pO2 – pCO2 – pWasserdampf.
Der Gesamtdruck der Blase muss mindestens dem Umgebungsdruck entsprechen (in diesem Fall 1 bar), sonst würde sie nicht existieren resp. könnte die Umgebung nicht verdrängen. Tatsächlich wissen wir, dass der Druck einer Blase sogar höher sein muss als der Umgebungsdruck. Für das Beispiel nehmen wir aber an, dass der Blasendruck dem Umgebungsdruck entspricht.
Der Stickstoffpartialdruck in der Blase bei einem Umgebungsdruck von 1 bar und Luftatmung errechnet sich gemäss obiger Formel
pN2 = pBlase (1.0 bar) – pO2 (0.04 bar) – pCO2 (0.06 bar) – pWasserdampf (0.06 bar) = 0.84 bar.
Dieser liegt über dem Stickstoffpartialdruck im Gewebe (0.74 bar). Damit besteht eine Tendenz zur Diffusion von Stickstoff aus der Blase ins Gewebe entlang seinem Gradienten (Abbildung 2 links). Dies führt dazu, dass die Blase schrumpft.

Abbildung 2. Sauerstoffenster bei 1 bar Umgebungsdruck unter Luftatmung resp. Atmung von 100% Sauerstoff. Werte idealisiert.
Wird 100% Sauerstoff geatmet, ergeben sich fast keine Veränderungen der O2- resp. CO2-Partialdrucke. Das Mehrangebot an Sauerstoff wird weitgehend verstoffwechselt. Damit steigt sein gelöster Anteil im Gewebe kaum an. Die Partialdrucke von Sauerstoff und CO2 bleiben im Gewebe als Folge des Stoffwechsels trotz 100% Sauerstoffatmung oder Steigerung des Umgebungsdruckes praktisch konstant.
Hingegen sinkt der Stickstoffpartialdruck im Gewebe theoretisch auf 0 ab, da kein Stickstoff mehr eingeatmet wird. (Dies ist natürlich abhängig vom Gewebe. Ein sehr «schnelles» Gewebe, z.B. Gehirn, wird sich nach wenigen Minuten so verhalten, ein sehr «langsames» Gewebe, z.B. Sehnen, wird auch nach einiger Zeit noch einen relevanten Stickstoffpartialdruck aufweisen). Damit wird der Gradient zwischen dem Stickstoffpartialdruck in der Blase und dem Gewebe maximiert. Dies führt zu einer Verstärkung der Diffusion von Stickstoff aus der Blase (Abbildung 2 rechts). Die Blase zeigt eine noch grössere Schrumpfungstendenz als unter Luftatmung. Dies ist in der Summe aller Effekte eine direkte Folge des Sauerstofffensters.

Steigt der Umgebungsdruck, nehmen die Partialdrucke aller Teilgase in der Blase gemäss Dalton proportional zu. Wird unter diesen Bedingungen hochprozentiger Sauerstoff geatmet, steigt der Gradient zwischen dem Stickstoffpartialdruck in der Blase und dem Gewebe weiter an (Abbildung 3). Die Tendenz von Stickstoff, aus der Blase zu diffundieren, nimmt zu und damit auch die Schrumpfungstendenz der Blase. Dies ist der Fall, wenn wir mit 100% Sauerstoff dekomprimieren.
Wie wir in Abbildung 1 gesehen haben, wird der Sauerstoffbedarf bei einem Sauerstoffpartialdruck von ca. 1.5 bar komplett durch den gelösten Sauerstoff gedeckt. Dies bedeutet, dass der Sauerstoffpartialdruck im Gewebe trotz Atmung von 100% Sauerstoff bei ca. 6 m Wassertiefe auf dem Niveau der Luftatmung bei 1 bar Umgebungsdruck konstant bleibt, d.h. bei 0.04 bar.
Das Sauerstofffenster hilft, die Dekompressionskrankheit zu vermeiden.
Das Sauerstofffenster trägt dazu bei, Blasen zum Schrumpfen zu Bringen und hilft so, das Auftreten einer Dekompressionskrankheit zu verhindern resp. unterstützt deren Behandlung z.B. im Rahmen einer hyperbaren Sauerstofftherapie in einer Druckkammer. Darin liegt der eigentliche Nutzen des Sauerstofffensters.
Auflösung einer irrigen Annahme
Die Verwirrung, welche das Sauerstofffenster stiftet, liegt wohl darin, dass aus der oben genannten Formel hervorgeht, dass der Stickstoffpartialdruck in der Blase höher ist als im umliegenden Gewebe. Dieses Phänomen wird fälschlicherweise auf das venöse Blut übertragen, gilt aber nur für eine Gasblase. Im Internet kursieren wissenschaftlich anmutende Artikel, die suggerieren, dass das venöse Blut aufgrund des vergrößerten Sauerstofffensters eine höhere Stickstoffaufnahmekapazität hätte. Diese Darstellung geht sogar so weit, zu behaupten, dass der Stickstoffpartialdruck im venösen Blut höher sei als im Gewebe. Das widerspricht jedoch den grundlegenden physikalischen Gesetzen, denn Stickstoff diffundiert passiv entlang seines Gradienten vom höheren Gewebepartialdruck zum niedrigeren Partialdruck im venösen Blut. Die oben erwähnte, irrige Annahme käme somit der Vorstellung gleich, dass Wasser bergauf fließt.
Was für die Blasenbildung gilt, trifft also nicht auf das venöse Blut zu. Ein großes Sauerstofffenster kann zwar die Bildung von Blasen reduzieren, hat jedoch für die Dekompression selbst kaum Bedeutung. Die treibende Kraft für die Dekompression ist der Unterschied des Stickstoffpartialdrucks zwischen Gewebe und Alveolen, und daran ändert das Sauerstofffenster nichts.
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