Das Sauerstofffenster - wichtig, aber missverstanden
- Michael Mutter
- 24. Okt. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Viele Vorgänge, die für das Verständnis der Dekompression entscheidend sind, lassen sich relativ einfach durch das Verhalten der Inertgase erklären, da sie nicht in den Stoffwechsel eingreifen. Sobald jedoch Gase wie Sauerstoff und Kohlendioxid ins Spiel kommen, wird es komplexer, da ihr Stoffwechsel mitbedacht werden muss. Das erfordert zusätzliche Überlegungen und schränkt etwa die Gültigkeit von Daltons Gesetz für diese Gase ein. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Sauerstofffenster. Es gibt wohl kein tauchphysiologisches Konzept, das öfter missverstanden wird. Dieser Blogbeitrag versucht, Licht auf das Sauerstofffenster zu werfen und es gegen andere Konzepte der Dekompressionsphysiologie, mit denen es oft vermischt wird, abzugrenzen. Und ihr lernt einen weiteren Fachbegriff kennen, mit dem sich gut angeben lässt.

Henry und die Gewebeatmung
Jedes Sauerstoffmolekül (O2), das in der Gewebeatmung verstoffwechselt wird, verwandelt sich in Kohlendioxid (CO2) und wird dadurch ersetzt. Da CO2 im Vergleich zu O2 deutlich besser löslich ist, führt dieselbe Konzentration CO2 in einer Flüssigkeit zu einem viel niedrigeren Partialdruck als bei O2 (laut Henry-Gesetz). Zudem wird überschüssiges CO2 im Körper weiterverarbeitet – es reagiert mit Wasser zu Kohlensäure und wandelt sich in Bicarbonat (HCO3-) um, das dann in Lösung geht. Dadurch liegt ein großer Teil des CO2 im Blut oder Gewebe gar nicht mehr als Gas vor und erzeugt folglich keinen Partialdruck.
Dies hat zur Folge, dass die Summe der Gewebedrucke von O2 und CO2 tiefer sein muss als deren Summe im Lungenbläschen respektive arteriellen Blut. Dies verdeutlicht das folgende Rechenbeispiel:

Die Tabelle illustriert Partialdrucke in verschiedenen Geweben unter Luftatmung bei einem Umgebungsdruck von 1 bar (Werte idealisiert und gerundet). Trotz Abfall des O2-Partialdruckes von 0.14 auf 0.04 bar steigt der CO2-Partialdruck im Gewebe nur von 0.05 auf 0.06 bar an.
Die Summe der Partialdrucke von O2 und CO2 ist im Gewebe tiefer als im Lungenbläschen.
Der CO2-Partialdruck kompensiert den Abfall des O2-Partialdruckes im Gewebe somit nicht. Der CO2-Partialdruck bleibt fast unverändert. Daraus resultiert ein tieferer Gesamtdruck im Gewebe (0.90 bar vs. 1.0 bar im Lungenbläschen in diesem Beispiel). Dieser Unterschied wird als Sauerstofffenster bezeichnet.
Daraus folgt, dass die Summe aller Partialdrucke in einem Gewebe immer etwas tiefer sein muss, als der Umgebungsdruck (bei Gleichgewichtsbedingungen, wenn der Umgebungsdruck sich nicht rasch ändert). Dieses Phänomen wird als «inhärente Untersättigung» («inherent unsaturation») bezeichnet. Der Grund dafür ist wie oben gezeigt die Verstoffwechselung von O2 zu CO2.
Die "inhärente Untersättigung"
Die Bedeutung der «inhärenten Untersättigung» liegt darin, dass sie eine Mindestdekompression beschreibt, die keine Blasenbildung verursacht. Solange die Dekompression nämlich den Bereich der «inhärenten Untersättigung» nicht überschreitet, entsteht keine Übersättigung. Theoretisch könnte man also so auftauchen, dass während der Dekompression dieser Schwellenwert nicht überschritten wird, was eine blasenfreie Dekompression garantieren würde. In der Praxis ist das jedoch schwer umzusetzen und beim Tauchen unmöglich. Bei Dekompressionen in Druckkammern könnte man den Umgebungsdruck aber so langsam absenken, dass das Gewebe stets im Bereich der «inhärenten Untersättigung» bleibt.
Tip: Die "inhärente Untersättigung" beiläufig bei Tekkie-Diskussionen erwähnen!
Das Sauerstoffenster wird desto grösser, je höher der eingeatmete O2-Partialdruck ist (PiO2). Weil O2 zuerst von Hämoglobin gebunden wird und der O2-Partialdruck deshalb tief bleibt, ist es unter Normaldruckbedingungen bei Luftatmung klein. Beim Tauchen ist aber das Hämoglobin zu 100% mit O2 gesättigt. Dies hat zur Folge, dass ab einer Hämoglobinsättigung von 100% jede Zunahme des PiO2 den O2-Partialdruck im Blut ansteigen lässt und so das Sauerstoffenster vergrössert.

Die Abbildung zeigt das Sauerstoffenster in Abhängigkeit des Sauerstoffgehaltes im Blut. Die orange Linie repräsentiert den CO2-Partialdruck. Dieser bleibt auch bei hohem CO2-Gehalt (fast) konstant.
Die Kurve für O2 (blau) wird im ersten, steil ansteigenden Teil durch die Hämoglobinbindung definiert. Eine kleine Steigerung des O2-Partialdruckes führt zu einer starken Zunahme des Sauerstoffgehaltes im Blut in Form von an Hämoglobin-gebundenem O2, während der O2-Partialdruck nicht wesentlich ansteigt. Ist das Hämoglobin ganz gesättigt (ca. ab 0.2 bar Sauerstoffpartialdruck d.h. Luftatmung bei Normaldruck), führt jede weitere Steigerung des O2-Partialdruckes zu einer proportionalen Zunahme des im Blut gelösten Sauerstoffes. Dies repräsentiert der lineare Teil der Sauerstoffgehaltskurve. Das Sauerstoffenster ist somit bei 100%-O2-Atmung während des Dekostopps auf 5 m (1.5 bar O2-Partialdruck) viel grösser. Es erreicht sein Maximum bei ca. 2.2 - 2.3 bar O2-Partialdruck und bleibt dann konstant.
Verkürzt das Sauerstofffenster die Dekompressionszeit?
Hilft die Vergrößerung des Sauerstofffensters wirklich dabei, die Dekompressionszeit zu verkürzen, wie es oft in Taucherforen behauptet oder in technischen Tauchkursen gelehrt wird? – Nein! Die eigentliche treibende Kraft für die Entsättigung ist der Unterschied der Inertgaspartialdrucke zwischen Gewebe und Lunge, der durch das Auftauchen oder die Wahl geeigneter Dekompressionsgase vergrößert wird. Zwar erweitert sich das Sauerstofffenster durch den höheren Sauerstoffpartialdruck bei hyperoxischen Atemgasen, doch für die Entsättigung und Verkürzung der Dekompression spielt es schlicht keine Rolle. Es ist lediglich ein begleitendes Phänomen.
Warum das Sauerstofffenster beim Tauchen dennoch von großer Bedeutung ist und warum es oft Verwirrung stiftet, erfährst du im nächsten Blogbeitrag.
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