Lässt sich aus der Heart Rate Variability (HRV) ein Dekompressionsmodell ableiten?
Ich habe kürzlich im DAN-Newsletter mit grossem Interesse die Diskussion einer Studie zum Thema HRV (heart rate variability, Herzfrequenzvariabilität) und Dekompressions-induziertem physiologischem Stress gelesen.
Worum geht es?
Dekompression führt zu physiologischem Stress. Als Ursache wird die Bildung von Inertgasblasen angenommen, welche über Gasembolien oder direkte Einwirkung auf die Gewebe die Dekompressionskrankheit auslösen. Heute weiss man, dass an der Entstehung der Dekompressionskrankheit auch entzündliche Prozesse beteiligt sind. Die HRV ist mit einem EKG einfach zu erheben und ein etablierter Parameter, um die Herzgesundheit einschätzen zu können. Die HRV ist umso kleiner, je kranker das Herz ist und umgekehrt. Diese Beziehung gilt aber nicht nur für das Herz, sondern für den Organismus ganz global. Vereinfacht gesagt nimmt die HRV ab, je kranker der Mensch wird. Nun gehen viele Krankheiten mit Entzündungszuständen einher, so auch die Dekompressionskrankheit. Deshalb wäre eine Korrelation zwischen Dekompressionsstress, HRV und Entzündung zu erwarten.
Die Studie
Schirato et al. haben diese Hypothese getestet. 28 Taucher wurden je 2 Tauchgängen unterzogen (mit mind. 48h Oberflächenpause). Vor und nach jedem Tauchgang wurden EKGs aufgezeichnet und im Blut Entzündungsmarker bestimmt. Tatsächlich zeigte sich eine Korrelation zwischen der HRV, Entzündungsmarkern und Dekompressionsstress. Konkret nahm die HRV umso mehr ab, je stärker die Entzündungsmarker anstiegen und je grösser der Dekompressionsstress war. Im DAN-Beitrag wird vom Diskutant daraus abgeleitet, dass wir zukünftig die Dekompressionspflichtigkeit anhand unserer HRV bestimmen könnten, indem Tauchcomputer unsere Herzfrequenz ähnlich einer smart watch am Handgelenk aufzeichnen.
Surrogatmarker dürfen nicht mit der klinisch manifesten Krankheit gleichgesetzt werden.
Dummerweise zeigte der einzige Taucher, der eine Dekompressionskrankheit entwickelte, gerade ein umgekehrtes Verhalten der HRV. Diese nahm bei ihm nämlich nicht ab (wie es anhand der oben erwähnten Korrelationen eigentlich zu erwarten gewesen wäre), sondern zu. Ausgerechnet bei ihm stimmte die Korrelation mit den Entzündungsmarkern resp. dem Dekompressionsstress nicht.
Fazit
Damit gehört die Vorstellung, das Risiko für eine Dekompressionskrankheit aus der am Handgelenk aufgezeichneten Herzfrequenz ableiten zu können, ins Reich der Science Fiction. Dafür zeigt sich einmal mehr, dass Surrogatmarker nicht mit der klinisch manifesten Krankheit gleichgesetzt werden dürfen.
Deshalb fasziniert der von Keller und Bühlmann gewählte, klinische Ansatz ihrer Dekompressionsforschung auch heute noch, bei dem «nur» zählte, ob Taucher krank wurden oder nicht. Es ist genau dies, was mich als Arzt an einer Präventionsmassnahme interessiert: ob jemand krank wird oder nicht. Ob wie beim Dekompressionsstress Blasen oder Entzündungsmarker auftreten oder sich bei einer Krankheit andere Werte günstig beeinflussen lassen, ist von sekundärem Interesse. Letztlich zählt nur, ob die (Dekompressions)-Krankheit verhindert wird oder nicht.
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